Leseprobe: Tödliche Geschichte

Prolog:

Der Wind trug Erinnerungen durch die dunklen Straßen Londons – brüchig, kaum hörbar, wie Stimmen in Träumen. In den engen Gassen hallten gedämpfte Schritte wider, vermischten sich mit dem leisen Flüstern des Regens, der in unregelmäßigen Tropfen auf das Pflaster schlug. Eine Stadt voller Geschichten, voller Geheimnisse – und manche davon sollten nie ans Licht kommen.

Etwas löste sich aus der Dunkelheit – kaum mehr als ein Umriss, aber zielstrebig wie ein Gedanke. Ein Jäger in der Nacht, getrieben von einer Mission, die nur er verstand. Jeder seiner Schritte war durchdacht, jedes Detail geplant. Es ging nicht um Mord. Nein, das, was er tat, war mehr. Eine Kunstform, eine akribische Rekonstruktion der Vergangenheit.

Seine Finger umschlossen das kalte Metall einer Waffe, die lange vor seiner Zeit gefertigt worden war. Eine Duellpistole – alt, aber nicht vergessen. Sie war gereinigt, restauriert, bereit für das, was folgen sollte. Der Mann kniete sich nieder, zog ein altes, ledergebundenes Buch aus seiner Manteltasche und schlug es auf. Staubige Seiten, verfasst in einer Schrift, die mehr war als nur Worte – sie waren eine Botschaft, eine Erinnerung.

„Ehre ist mehr als ein Wort.“

Er hatte diese Worte unzählige Male gelesen. Sie brannten in seinem Geist, führten seine Hand. Die Welt mochte ihn für einen Mörder halten. Doch er wusste es besser. Er war ein Geschichtenerzähler. Und diese Geschichte war noch nicht zu Ende.

Er trat in den Green Park hinaus. Der Nebel verschluckte seine Konturen, nahm ihn auf wie ein alter Vertrauter. Der Ort war perfekt. Bald würde sein Werk vollbracht sein.

Und die Welt würde verstehen.

Kapitel 1: „Duell“

Der Mond schien fahl durch zerrissene Wolken und tauchte den Green Park in London in gespenstisches Licht. Der Wind fuhr durch die kahlen Baumkronen, als wollten ihre Äste verborgene Zeichen in den Himmel schreiben. Der kalte Dunst kroch über die Wiesen, verschluckte die Lichtkegel der Laternen und formte unheimliche Silhouetten.

Jonathan Carrick hatte nie geglaubt, dass Dunkelheit ein Eigenleben besitzen könnte. Doch in dieser Nacht schien sie ihn zu verschlingen – jede Bewegung dämpfte sie, jeden Atemzug raubte sie. Der Kies knirschte unter seinen schweren Stiefeln – ein ungewolltes Signal, das durch die unheilvolle Stille hallte wie ein scharfer Schrei. Es war, als wäre der Park ein lebendiges Wesen – und er ein Fremdkörper in seinem Inneren.

Er zog seinen Mantel enger um die Schultern und warf einen Blick über die Schulter. Nichts. Nur die unendliche Schwärze zwischen den Bäumen, deren Schatten wie hungrige Bestien am Boden lauerten. Die Kälte drang durch den dicken Stoff seines Mantels, biss in seine Haut und kroch wie Eiswasser durch seine Adern. Jonathan schüttelte den Kopf. Sein Atem wurde schneller. „Nur ein Spaziergang“, murmelte er, mehr zu sich selbst als zur Nacht.

Doch die Nacht schwieg. Die Stille verdichtete sich, legte sich schwer auf seine Ohren, als wollte sie ihm den Atem nehmen. Er wollte nicht hier sein, nicht in diesem Park, nicht um diese Zeit. Sein Wagen war liegengeblieben, und statt auf den Abschleppdienst zu warten, hatte er beschlossen, sich zu Fuß auf den Weg zu machen. Eine fatale Entscheidung, wie er jetzt erkannte.

Jonathan erstarrte. Zwischen den Bäumen erkannte er eine regungslose Gestalt – eine Silhouette, die mit dem Wald zu verschmelzen schien. Sein Atem ging stoßweise – kleine, weiße Wolken, die der Wind sofort zerriss.

Er konnte nicht erkennen, ob es ein Mensch war oder etwas anderes. Ob die Gestalt ihn ansah oder einfach nur dastand, war unmöglich zu sagen. Doch er konnte das unangenehme Gefühl nicht abschütteln, beobachtet zu werden. Sein Herz begann zu hämmern, laut und schwer in seiner Brust, wie das Dröhnen einer Kriegstrommel.

„Hallo?!“, rief er mit einer Stimme, die ihm selbst fremd vorkam. Sie klang schwach, kaum mehr als ein Flüstern, das vom Wind fortgetragen wurde. Keine Antwort. Die Gestalt blieb regungslos, wie eine Statue, die aus der Dunkelheit selbst gehauen war.

Plötzlich bewegte sie sich. Langsam, fast gemächlich, setzte sie einen Fuß vor den anderen. Jonathan spürte, wie ihm die Luft aus den Lungen wich. Die Bewegung war zu flüssig, zu still, als wäre die Gestalt kein Wesen aus Fleisch und Blut, sondern ein dunkler Fleck, der sich über die Erde schob. Die Bäume schienen sich mit ihr zu bewegen, verschlangen ihre Konturen und ließen sie immer wieder neu entstehen.

„Wer ist da?!“, rief Jonathan erneut, diesmal lauter. Doch seine Stimme klang hohl und verängstigt, und er konnte nicht verhindern, dass sie am Ende brach.

Keine Antwort. Stattdessen beschleunigte die Gestalt ihre Schritte, fast unmerklich, aber genug, dass Jonathan es spürte. Der Abstand zwischen ihnen wurde kleiner, Zentimeter für Zentimeter, und die beklemmende Dunkelheit schien mit jedem Moment dichter zu werden. Jonathan wich einen Schritt zurück, dann noch einen, sein Herz raste, und der Kies unter seinen Stiefeln knirschte laut – viel zu laut.

Und dann hielt die Gestalt inne. Sie war jetzt näher, viel näher, und Jonathan konnte ihre Umrisse deutlicher erkennen. Eine große, hünenhafte Gestalt, die von Kopf bis Fuß in Dunkelheit gehüllt war. Das Gesicht war verborgen, doch Jonathan konnte spüren, wie ein unsichtbarer Blick ihn durchbohrte, kalt und gnadenlos wie eine Klinge.

Sein Atem ging stoßweise, und die Luft brannte in seinen Lungen. Er wollte weglaufen, wollte schreien, aber sein Körper gehorchte ihm nicht. Er stand wie angewurzelt, die Angst hatte ihn in ihrem eisigen Griff.

Ein Zischen – ein bösartiges Geräusch, das an das Fauchen eines Tieres erinnerte. Plötzlich stürzte die Gestalt auf ihn zu, ein Gespenst, das sich wie ein Sturm über ihn warf.

Jonathan schrie. Ein lauter, durchdringender Schrei, der in der Nacht widerhallte und zwischen den Bäumen nachklang. Er drehte sich um und rannte, so schnell ihn seine Beine trugen. Der Kies spritzte unter seinen Füßen auf, und die Kälte schnitt wie Messer in seine Lungen. Hinter sich hörte er das Zischen näherkommen, immer näher, wie das Rasseln einer unsichtbaren Kette.

Er wusste, dass er keine Chance hatte. Doch er rannte – blind, durch die Dunkelheit, ohne Ziel, ohne Hoffnung. Die Düsternis verschlang ihn, der Nebel löschte jede Kontur um ihn herum.

Jonathan blieb stehen und drehte sich um, sein Atem ging stoßweise. Sein Herzschlag dröhnte in seinen Ohren, während die Gestalt vor ihm in der Dunkelheit verschwand. Doch die Stille blieb – eine erdrückende, lähmende Stille, die sich wie Blei auf seine Gedanken legte.

Er schaute sich um, suchte mit den Augen nach der Bewegung, die er eben noch gesehen hatte, aber da war nichts. Die Dunkelheit verschluckte alles.

Plötzlich spürte er es. Kein Geräusch, kein Luftzug, doch etwas Verändertes lag in der Luft – eine Spannung, die ihm die Haare auf den Armen aufstellte. Jonathan stolperte zurück, seine Augen weiteten sich. Sein Verstand versuchte zu verstehen, was seine Augen nicht sahen.

Ein dumpfer Klang, der in der Stille wie ein metallischer Schlag verhallte. Jonathan drehte sich um, doch es war zu spät. Etwas traf ihn mit der Wucht eines Vorschlaghammers in die Brust, und er ging zu Boden. Der Schmerz explodierte in seinem Innersten, heiß und brennend, und seine Lungen schienen sich zusammenzuziehen.

Er versuchte zu schreien, doch kein Laut kam über seine Lippen. Sein Blick verschwamm, und alles um ihn herum wurde zu einem dunklen Strudel aus Düsternis und Schmerz. Er konnte nicht sehen, wer oder was ihn getroffen hatte, doch irgendwo in der Ferne hörte er Schritte, langsam und bestimmt, die sich von ihm entfernten. Die Luft schien zu flüstern, trug die Schritte davon, bis nur noch die Stille blieb.

Als Jonathan wieder zu Bewusstsein kam, wusste er nicht, wie lange er gelegen hatte. Sein Körper fühlte sich taub an, und sein Atem ging flach und schwach. Über ihm zeichneten sich die kahlen Äste scharf gegen den Himmel ab, während der Mond blass und kalt auf ihn herabsah.

Er versuchte, sich zu bewegen, doch ein stechender Schmerz schoss durch seinen Körper. Als er nach unten blickte, sah er die dunkle, klebrige Feuchtigkeit, die sich über seinen Mantel ausbreitete – sein Blut, das langsam in den Kies sickerte.

In diesem Moment sah er sie – die Silhouette. Keine Bewegung, kein Laut. Sie stand da, nicht weit von ihm entfernt. Sie schien ihn anzustarren – ohne Augen, ohne Gesicht –, und doch spürte Jonathan ihren Blick wie einen Dolch in der Brust. Dann bewegte sich die Gestalt in seine Richtung.

Sein letzter Gedanke, bevor ihn die Dunkelheit endgültig verschlang, war ein einziger, bohrender Zweifel: Warum?

Die Gestalt blieb neben Jonathan stehen. Die Arbeit war fast vollbracht. Dies war nicht bloß ein Mord – es war ein Kunstwerk, eine akribische Inszenierung. Die Dunkelheit nahm ihn auf, ließ ihn eins werden mit dem Ort, während er die letzten Details arrangierte.

Zwei Stiefelabdrücke waren sorgfältig im feuchten Kies platziert, genau zwölf Schritte voneinander entfernt. Sechs Schritte in jede Richtung. Sie waren wie ein Echo einer Vergangenheit, die er so sehr verehrte. An der einen Stelle, wo die Abdrücke abrupt endeten, hatte er eine antike Pistole aus der Tasche seines Mantels gezogen, ihr kaltes Metall ein Nachklang vergangener Epochen.

Seine Hände waren ruhig, fast andächtig, als er die Pistole erneut betrachtete. Eine Spencer-Pistole aus dem frühen 19. Jahrhundert – ein Meisterwerk von Ingenieurskunst und ein Relikt einer Ära, in der Ehre noch Gewicht hatte. Die Waffe war nicht bloß eine Waffe. Sie war ein Symbol. Ein Stück Geschichte, das er mit akribischer Präzision und moderner Technik wieder funktionsfähig gemacht hatte.

„Ehre ist mehr als ein Wort.“

Die Stimme seines Urgroßvaters hallte durch seinen Kopf, tief und unerbittlich. Sie war nie wirklich verstummt – nicht in all den Jahren, in denen er die Geschichte seiner Familie enträtselt hatte. Manchmal kam sie leise, ein Flüstern vergangener Zeiten. Manchmal war sie ein donnernder Befehl, der in seinem Schädel widerhallte.

„Erinnere dich, Junge. Was verloren ging, kann wiederhergestellt werden. Aber nur durch Taten.“

Sein Griff um die Pistole wurde fester. Ja. Durch Taten.

Die Wolken rissen auf, und der Mond ließ ein bleiches Licht über die Lichtung gleiten, still wie Staub im Wasser. Er kniete nieder und zog ein kleines altes Tagebuch aus seinem Mantel. Er platzierte es neben seinem Opfer. Jedes Detail war geplant, jede Geste ein Schritt in Richtung seines ultimativen Ziels.

„Sie sehen dich jetzt.“

Er erstarrte kurz, sein Atem stockte. Die Stimmen klangen näher. Er kannte sie. Sie waren immer da, zwischen den Zeilen alter Briefe, in den verstaubten Korridoren seines Gedächtnisses.

„Sie wissen, dass du es getan hast. Aber hast du es richtig getan?“

Seine Finger zitterten leicht, während er das Tagebuch zurechtrückte. Ein Fehler – nur ein kleiner Fehler – und sie würden ihn wieder verspotten. Wie damals.

Er trat einen Schritt zurück, musterte seine Inszenierung und lächelte unter der Kapuze, die sein Gesicht verbarg. Es war perfekt. Der Ort würde gefunden werden, und die Welt würde staunen. Doch nicht über die Gewalt – nein, Gewalt war bloß das Mittel zum Zweck. Sie würde staunen über die Reinheit, die Ästhetik, die Unvergänglichkeit der Geschichte.

Sein Blick wanderte zum Opfer, dessen Körper er mit Bedacht in Position gebracht hatte. Ein ausgestreckter Arm, ein leichter Winkel im Kopf. Das trübe Wetter würde den Rest tun, die Details verschlucken und die Vorstellungskraft derer beflügeln, die es später sehen würden.

Er richtete sich auf und verschwand lautlos in der Dunkelheit, wie ein Traum, der nie da gewesen war. Sein Werk war vollbracht. Jetzt musste er nur warten. Warten, bis die Welt die Schönheit seiner Vision erkannte.

„Es ist noch nicht vorbei.“

Die Worte kamen nicht von ihm. Sie schienen aus der Luft selbst geboren, flüsterten zwischen den Ästen, schlichen sich in seine Gedanken. Seine Ahnen. Sie waren noch nicht zufrieden.

„Es gibt noch mehr zu tun. Mehr zu sühnen.“

Ein Frösteln lief über seinen Rücken. Kaum merklich nickte er – nicht für sich selbst, sondern für sie. Sie sollten wissen, dass er sie gehört hatte.


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