Leseprobe: Graumoos
Prolog:
Leon hatte ihr nie gesagt, was er fühlte – und jetzt war es vielleicht zu spät. Oder genau der richtige Moment.
Das Zimmer war zu ordentlich für einen Achtzehnjährigen.
Ein schmaler Schreibtisch, frei von allem außer einem Spiralblock und einem Bleistift. Das Bett gemacht, die Bettdecke straff gezogen. An der Wand hing nichts – kein Poster, kein Foto, kein Chaos. Nur ein schlichter, beiger, schwerer Vorhang zog sich über das Fenster. Dahinter: Dämmerung.
Leon saß auf dem harten Holzstuhl und starrte auf die halbfertigen Verse. Die Worte waren leise gefallen – erst tastend, dann drängender, wie Nebel, der sich heimlich über das Land legt. Er hatte nicht schreiben wollen. Aber etwas in ihm wollte raus. Und dieses Etwas trug ihren Namen.
Sophie.
Der Name stand nirgends auf dem Blatt. Und doch war er in jeder Zeile.
Sie war fort. Einfach weg. Und niemand sagte es laut, aber alle dachten das Gleiche. Doch Leon…
Er spürte es. Sie war nicht tot. Nicht wirklich.
Er hatte sie gesehen. Oder geglaubt, sie zu sehen – dort, wo der Wald am dichtesten war.
Dort, wo der Boden weich wurde und die Stille vibrierte.
Sie hatte ihn nicht angesehen. Hatte nichts gesagt. Aber etwas war da gewesen.
Etwas zwischen Traum und Warnung.
Er las die letzte Zeile noch einmal:
„Wenn der Nebel flüstert, hört nur, wer fehlt.“
Dann knirschte der Bleistift.
Er zerknüllte das Blatt, drückte es in der Faust, als könnte er damit das Gefühl auslöschen.
Sein Blick wanderte zum Fenster.
Langsam stand er auf, schob den Vorhang zur Seite.
Der Wald lag still, regungslos. Kein Wind. Kein Laut.
Und dahinter: das Graumoos. Schwarz wie Öl. Offen wie ein Blick, der zu lange anhält.
Er konnte es fast hören.
Nicht mit den Ohren. Mit dem Innern.
„Es denkt“, hatte Sophie geschrieben.
Und jetzt, dachte Leon, träumt es uns.
***
Teil 1: „Wo Träume enden…“
Kälte legte sich wie ein Schleier über das Dorf – nicht schneidend oder beißend, sondern still, schwer und vollkommen. Die Luft war klar, aber unbeweglich. Kein Windhauch wehte, kein Rascheln in den Büschen. Sogar die alten Fachwerkhäuser, gedrängt um den Dorfkern wie stumme Zeugen, schienen den Atem anzuhalten. Hinter den Fenstern brannten vereinzelte Lichter – warm, aber abgeschottet. Als würde jeder wissen, dass etwas draußen lauerte, das besser nicht hereingelassen wurde.
Blieshagen lag dort, wo die Straße aufhörte. Eine schmale Asphaltader, die sich durch dichte Wälder wand, mündete hier in Kopfsteinpflaster und Geschichte. Im Winter war das Dorf noch abgeschiedener als sonst. Kein Empfang. Keine Busse. Nur der Pfad durch die Bäume – und die Stille.
Vom Hügel aus konnte man das Graumoos sehen – wenn man wusste, wohin man blicken musste. Ein dunkler Fleck im abendlichen Dämmerlicht. Keine klare Grenze, kein Zaun – nur ein Übergang. Der Wald lichtete sich dort nicht; er verdichtete sich, wurde niedriger, geduckter, als wolle er das Moor verstecken. Und doch schien es zu atmen. Wie eine Haut unter der Erde, unter der sich etwas regte.
Niemand sprach gern darüber. Wer lange genug hier lebte, wusste, dass es keine Geschichten waren. Dass die Geräusche in der Nacht nicht nur vom Wind kamen. Dass das Moor sich erinnerte.
Sophie stand am Rand des Moors. Nur ein Pullover bedeckte sie, zu dünn für den frostigen Januar. Ihre Gummistiefel hatte sie ausgezogen, lagen hinter ihr im Matsch. Der Nebel war zurückgekehrt – schwer, schwefelig, wie feuchter Rauch. Er schwebte tief, streichelte das Wasser, das in Lachen und Pfützen zwischen den Binsen glänzte. Die Kälte kroch ihr nicht unter die Haut. Nicht heute Nacht.
Sie setzte einen Fuß in das Wasser. Es war nicht kalt. Im Gegenteil: Der Boden fühlte sich weich an, warm sogar. Wie nasses Moos auf einer Heizung. Als hätte jemand den Wald unterirdisch beheizt. Sie bewegte sich langsam und watete tiefer hinein. Die Geräusche des Dorfes verschwanden. Kein Käuzchenruf, kein Rauschen, kein entferntes Bellen mehr. Nur ihr Atem – und selbst der verklang.
Dann sah sie die Person.
Sich selbst.
Aber älter. Die Gestalt stand auf einer kleinen Erhebung im Nebel, barfuß wie sie, das Gesicht kaum zu erkennen. Doch sie wusste, dass sie es war. Später. Später irgendwann. Oder früher?
Die andere Sophie sprach; ihre Stimme war leise, doch in Sophies Kopf klang sie wie ein Donnerhall.
„Es will, dass wir träumen. Es erinnert sich.“
Sie hielt den Atem an. Die Worte schnitten sich in ihr fest, wie etwas Altes, das nicht zum ersten Mal gesagt wurde. Sie wollte fragen – doch die Gestalt war bereits verschwunden. Im Nebel, im eigenen Blick.
Nur der Stein blieb zurück.
Ein grober Block, halb im Moor versunken, von Farnen und Wurzeln umwachsen. Auf seiner Oberfläche: eine Spirale. Eingeschnitten, kaum sichtbar – aber uralt. Und daneben eine Zahl. Krude eingeritzt, als habe jemand sie hineingekratzt, nicht geschrieben.
17
Sie legte die Hand auf den Stein. Er war warm. Fast zu warm. Unter der Haut vibrierte er – ein Summen, tief und drängend. Und dann war es wieder da.
Ein Flüstern.
Kein Wort. Kein Satz. Nur ein Hauch. Als würde etwas unter der Oberfläche ihren Namen denken.
Sie drehte sich nicht um, als Schritte im Wasser laut wurden. Sie wusste, wer kam. Oder was. Der Nebel teilte sich nicht. Aber da war Bewegung. Eine Silhouette. Dünn. Schemenhaft. Und doch: vertraut.
„Du bist wiedergekommen“, sagte die Gestalt.
Sie blinzelte. Ihre eigene Stimme. Aus einem fremden Mund.
Die andere Sophie stand da. Anders. Die gleiche Haut, aber voller Linien. Die gleichen Augen, aber tiefer. Keine Spiegelung – eher: Möglichkeit. Vergangenheit oder Zukunft.
„Ich träume nicht mehr“, sagte sie.
Die andere lächelte. Traurig. „Doch. Nur anders.“
Dann hob sie die Hand und wies nach Norden. Über das Moor hinaus, dorthin, wo das Dickicht dichter wurde. Wo das Land sich verwarf. Wo früher, so sagte man, der Kalte Bliesbach verlief, unterirdisch, durch vergessene Gänge.
Sie folgte der Richtung mit dem Blick. Und spürte es. Einen Sog. Kein Ziehen – eher ein Erinnern. Als hätte sie dort schon einmal gestanden. Im Traum. Im Dazwischen.
„Warum?“, fragte sie. „Warum ich?“
Die andere Sophie antwortete nicht. Stattdessen trat sie zurück – in den Nebel, in den Sumpf, in das, was nicht mehr jetzt war. Ihr Körper verblasste, wie ein Bild, das zu oft betrachtet wurde. Doch ihre Worte blieben.
„Weil du dich erinnern kannst.“
Dann war sie weg.
Zurück blieb nur das Moor. Und die Spirale. Und die Zahl.
Als sie sich umdrehte, war dort, wo ihre Stiefel im Matsch gelegen hatten, nur noch ein Abdruck. Keine Schuhe. Kein Weg zurück. Nur das Moor. Und das, was unter ihr atmete.
Sie ging weiter. Tiefer.
Und das Flüstern wurde lauter.
Sophie riss die Augen auf. Ein kurzer, schneidender Schrei zerfetzte die Stille des Zimmers, bevor er ebenso abrupt wieder erstickte. Zurück blieb nichts als ihr schweres Atmen und das Pochen ihres eigenen Herzschlags in den Ohren. Kein Geräusch antwortete. Keine Schritte, keine Stimmen. Nicht einmal das leise Knarzen des alten Hauses. Es war totenstill.
Ihr Körper lag noch verkrampft unter der dünnen Decke; der Schlaf klebte wie kalter Schweiß an ihrer Haut. Die Schatten im Raum wirkten tiefer als sonst, der Atem formte kleine Wolken in der kühlen Luft.
Das Zimmer war klein und verwinkelt, mit schrägen Wänden, als hätte es sich selbst zurückgezogen. Die Tapete an der Stirnwand blätterte an den Rändern ab, vergilbt vom Atem der Jahre. Neben dem Bett lag ein schiefer Bücherstapel; auf dem kleinen Nachttisch stand ein Wecker, der seit Monaten stehengeblieben war. Über der Kommode hing ein altes Foto von ihr und ihrem Bruder – beide lachend, mit schmutzigen Gummistiefeln, irgendwo im Wald.
Sie setzte sich auf, tastete mit zitternden Fingern nach der Lampe. Das Licht flackerte kurz, dann erhellte eine warme Glühbirne das Zimmer. Ihre Augen waren weit aufgerissen, noch im Griff der Erinnerung, aber schon auf der Suche nach etwas Festem.
Mit einer schnellen Bewegung schob sie die Matratze ein Stück zur Seite. Ihre Hand glitt darunter, tastete, fand den vertrauten Einband. Ein kleines, schwarzes Buch, vom vielen Aufschlagen weich geworden an den Kanten. Sie legte es auf ihre Knie, griff nach dem Stift auf dem Nachttisch und öffnete es. Die Seiten waren voll – mit Schriftzügen, Symbolen, Skizzen von Dingen, die sie nicht erklären konnte.
Sie schrieb. Langsam zuerst, dann schneller. Worte, die ihr durch die Finger liefen, als müsste sie sie aus sich herausdrücken, bevor sie verglühten. Ein paar Zeilen nur. Fragmente.
Dann legte sie den Stift weg.
Langsam stand sie auf, barfuß, das Parkett unter ihren Füßen kalt wie Stein. Sie trat ans Fenster und zog die Gardine beiseite. Das Glas war leicht beschlagen. Draußen schlief Blieshagen. Kein Licht, kein Laut, nur die Dunkelheit, die sich über die Dächer gelegt hatte wie ein schweres Tuch.
Die Fachwerkhäuser lagen stumm da, vertraut und fremd zugleich. Hinter dem Dorf, am Horizont, begann der Wald. Schwarz, kompakt – eine Wand aus Düsternis. Und dort, wo sich das Land zu senken schien, wo die Bäume kleiner wurden, lag das Moor. Unsichtbar. Und doch da.
Sie spürte es, ohne es sehen zu müssen. Ein Flimmern unter der Haut. Ein Echo in der Brust. Etwas hatte sie gerufen – und wartete noch immer.
***
Das Büro von Daniel Berres lag am Ende des Gangs, halb verborgen hinter einer Milchglastür mit abgegriffenen Buchstaben: „Kriminalpolizei – Abteilung 3“. Drinnen herrschte das geordnete Chaos eines Mannes, der mehr dachte als sprach. Zwei Metallregale bogen sich unter der Last alter Fallakten; auf dem Schreibtisch stapelten sich Mappen, lose Blätter und Kaffeebecher – einer noch dampfend, der andere bereits halb eingetrocknet. Die Fenster waren beschlagen vom Temperaturunterschied zwischen draußen und drinnen, und irgendwo brummte ein alter Heizlüfter, als wolle er sich selbst beweisen, dass er noch funktionierte.
Daniel saß mittendrin. Vor ihm: ein Berg aus Akten, manche aufgeklappt, andere mit neonfarbenen Klebezetteln versehen, als hätte jemand versucht, in dem Papiermeer System zu schaffen. Er rieb sich die Schläfen, blätterte, murmelte etwas Unverständliches – dann knallte er eine Mappe zu und murmelte:
„Verdammte Bürokratie.“
Es klopfte.
Ein Kollege – Typ Frühaufsteher, mit Haargel gestylt und einem Kaffee im Thermobecher – steckte den Kopf hinein. „Danno … Chef ruft.“
Daniel stöhnte leise. Seine Augen – dunkelgrün, heute müder als sonst – wanderten kurz zur Uhr. Halb neun.
„Natürlich ruft er. Wäre ja auch zu schön, mal ein ruhiger Morgen.“
Er stand auf, zog sich die Lederjacke über das verwaschene Hemd und schob den Bürostuhl mit einem leisen Quietschen zurück. Der Gang durchs Revier war gesäumt von leise klappernden Tastaturen, Telefongesprächen in Flüsterlautstärke und dem Geruch von Druckerwärme und Filterkaffee. Niemand beachtete ihn groß – Daniel war einer von denen, die da waren, wenn’s brannte, aber nicht viel redeten, wenn’s nicht sein musste.
Vor der Tür des Chefbüros klopfte er einmal kurz und öffnete, ohne auf Antwort zu warten.
Sein Vorgesetzter stand am Fenster, den Rücken ihm zugewandt. Die Hände in den Hosentaschen seines Anzugs, den Blick hinaus auf die Saar, wo der Fluss sich träge durch die Stadt zog. Saarbrücken war in dieser Jahreszeit eine Stadt in Grautönen – die Fassaden alt, der Himmel niedrig, die Luft durchzogen von Regen, Ruß und dem Duft von Brot vom nahen Markt. Zwischen den Dächern dampften die Kamine, auf den Straßen glänzten die Pflastersteine feucht. Und doch haftete ihr etwas an – eine stille, melancholische Würde, als strebte die Stadt nicht nach Aufmerksamkeit und wüsste doch um ihren wahren Wert.
Der Chef drehte sich langsam um.
„Setz dich, Daniel.“
Daniel ließ sich in den Besucherstuhl sinken, während der Chef stehen blieb, die Stirn gerunzelt.
„Sagt dir Blieshagen was? Oder eine Frau Krämer?“
Daniel runzelte die Stirn. „Nein. Sollte es?“
Der Chef trat an seinen Schreibtisch, zog eine Mappe aus der obersten Schublade und warf sie Daniel hin. Die Akte landete mit einem dumpfen Plopp auf dem Tisch. Der beige Karton war abgestoßen, ein handschriftlicher Vermerk prangte oben rechts: Vermisstensache – Sophie König.
Daniel blätterte, überflog die ersten Seiten, Fotos, Protokolle.
„Vermisstenfall?“
„Ja. Vermisst.“
„Was geht uns das an? Wir sind Mord. Brauchen die Dorfsheriffs jetzt unsere Hilfe, um jemanden zu finden?“
Unbewusst sah Daniel eine Schaukel vor seinem geistigen Auge – und eine bunte Schaufel…
Der Chef atmete tief durch, setzte sich nicht und ließ die Fingerknöchel knacken.
„Du sollst das übernehmen.“
Daniel schüttelte ungläubig den Kopf.
„Ich? Was hab ich verbrochen?“
„Diese Frau … Krämer … kannte wohl unseren Alten. Hat explizit nach dir gefragt. Will, dass du bleibst. Vor Ort. Sagte, sonst redet sie nicht.“
Daniel sah sich schon zwischen verstaubten Kaffeekannen, Spitzendeckchen und misstrauischen Dorfblicken.
„Ich kenne keine Krämer.“
Der Chef zuckte mit den Schultern. „Jetzt schon. Wie auch immer. Du bist eingeteilt. Deinen Kram übernimmt Müller. Ist eh grad wenig los. Ein bisschen Landluft wird dir gut tun. Siehst blass aus.“
Er grinste, aber der Blick blieb ernst.
Daniel lehnte sich zurück, fuhr sich über das Gesicht.
„Na toll. Und wo wohne ich?“
Der Chef zog eine Brille aus der Innentasche seines Sakkos, blätterte in einer Mappe, runzelte die Stirn.
„Schwarzer Hahn. Dorfkneipe mit Übernachtung.“
Daniel hob eine Augenbraue.
„Klingt ja traumhaft.“
Der Chef reichte ihm die vollständige Akte.
„Hier steht alles. Viel Spaß.“
Das Grinsen saß jetzt fester, spöttischer.
Daniel nahm die Mappe, mürrisch.
„Das ist kein Witz?“
„Kein Witz.“
Daniel fluchte leise, stand auf, warf die Akte unter den Arm – und verließ das Zimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen.
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