Leseprobe: Im Zeichen der Hexe

Prolog:

Es war eine Nacht wie jede andere, und doch war nichts mehr wie es schien. In den schimmernden Lichtern der Großstadt, umhüllt von der Dämmerung der Verbote, begann das Unaussprechliche. Wo Macht und Gier ihre schmutzigen Fäden zogen, gab es kein Entkommen. In den gläsernen Türmen der Reichen, inmitten von teuren Getränken, Zigarrenrauch und stiller Verzweiflung, war das wahre Spiel längst verloren – nicht durch das Gesetz, sondern durch die dunklen Mächte, die in der Düsternis lauerten.

Und dann trat sie auf die Bühne – die Fremde, die die Dunkelheit trug wie ein schweres Gewand, ihre Augen ein Versprechen für all das, was kommen sollte. Ein Blick, ein Flüstern, und das Spiel nahm seinen Lauf.

Charles Wainwright, ein Mann, der geglaubt hatte, mit Geld könne man unsterblich werden, hatte den Preis noch nicht bezahlt. Aber er würde es bald tun. Denn in der Welt, die sie erschaffen hatten, waren die Regeln nicht für die Sterblichen. Ihr Urteil war kein bloßes Wort. Es war das Schicksal, das mit der Sichel der Gerechtigkeit kam.

Dies war der Beginn.

Ein Opfer, ein Zeichen. Und im Flüstern der Nacht ein Versprechen. Ein neues Zeitalter brach an.

Kapitel 1: „Opfer“

Der Bass der Musik dröhnte wie der Herzschlag eines Dämons in der Dachgeschosswohnung. Kristalllüster zitterten im Takt und warfen splitternde Lichtreflexe auf Wände, die mit abstrakten Gemälden in Schwarz und Gold verziert waren. Die Luft war schwer von verbotenem Luxus: Zigarrenrauch, ein Hauch Trüffelöl, der kühle Duft von edlen Tropfen. Auf dem Marmortisch zog eine schlanke Hand weiße Linien, während eine Person neben ihr – mit einer goldenen Armbanduhr am Handgelenk – ein silbernes Feuerzeug aufschnappen ließ. Die Flamme flackerte auf und spiegelte sich in den Kristallgläsern.

Charles Wainwright lehnte an der Bar, sein Maßanzug schief, die Manschetten mit Lippenstift bemalt. Er beobachtete durch halb geschlossene Lider, wie ein Mädchen im Glitzerkleid über den Flokati-Teppich kroch, verfolgt vom grölenden Gelächter eines Börsenmaklers. Irgendwo klirrte Glas. Der Nachtportier hatte längst aufgehört, nachzufragen, ob die „Gäste“ bitte leiser sein könnten. Hier, im 42. Stock, galt nur das Gesetz des Bankiers.

Sein Gesetz.

„Meine Freunde!“ Charles‘ Stimme überschlug sich, als er auf den Marmortisch kletterte. Die kalten Fliesen unter seinen bloßen Füßen ließen ihn schaudern. „Wisst ihr, was das hier ist?“ Er reckte eine Flasche voll prickelnder Eleganz in die Luft und trank, ohne das Glas zu bemühen. „Freiheit! Echte Freiheit! Geld macht nicht glücklich? Bullshit!“ Er lachte hysterisch, während Schaum über seine Handgelenke tropfte. „Geld macht unsterblich!“

Ein Chor aus Jubel und Gläserklingen antwortete. Doch am Rand der Menge, halb versteckt hinter einem Vorhang aus indischer Seide, stand sie.

Die Fremde.

Ihr schwarzes Kleid floss wie Tinte um ihren Körper. Kein Glitzer, kein Logo – nur Stoff, der das Licht zu verschlucken schien. Ihre Haut hatte den fahlen Ton von Altpapier, kontrastiert von Lippen, rot wie frisch geronnenes Blut. Als ihre smaragdgrünen Augen sich mit seinen trafen, spürte Charles einen eisigen Stich im Nacken. Doch dann zwinkerte sie ihm zu, und das Gefühl verflog.

Hallo?

Er stieg vom Tisch, stolperte über eine leere Kaviar-Dose. Als er wieder aufblickte, war sie weg.

„Alles in Ordnung, Boss?“ Ein Bodyguard mit Narbengesicht tauchte neben ihm auf.

„Hmm? Ja, ja…“ Charles rieb sich die Schläfen. Plötzlich schmeckte der teure Tropfen bitter. „Sag mal, Viktor – hast du die gesehen? Die Frau in Schwarz?“, er lallte.

Viktor folgte seinem Blick. „Welche Frau?“

Dachte ich mir’s doch, raunte eine Stimme in seinem Hinterkopf, die nicht seine eigene war.

Die Party eskalierte. Um 3:17 Uhr morgens tauchte jemand nackt im Koi-Teich auf. Um 3:46 Uhr zerschlug ein Hedgefonds-Manager eine teure Vase an der Wand, um „zu beweisen, dass sie echt war“. Doch Charles, sonst der König des Chaos, spürte nur noch Kälte. Die Fremde tauchte immer wieder auf – hinter der Bar, im Spiegel, im Rauch seiner Zigarre –, doch wenn er hinblickte, war sie verschwunden.

Bis sie plötzlich neben ihm auf der Ledercouch saß.

„Sie sehen müde aus, Mister Wainwright.“ Ihre Stimme war Honig über Rasierklingen.

Er zuckte zusammen. „Wer zum Teufel sind Sie? Wie sind Sie reingekommen?“

Sie lächelte. In ihrem Mund blitzte etwas Goldenes. „Oh, ich wurde eingeladen.“ Eine schmale Hand strich über sein Knie. „Möchten Sie nicht…entspannen?“

Sein Protest erstarb, als ihre Finger seine Schläfe berührten. Ein Duft stieg ihm in die Nase – Myrrhe und etwas Fauliges, wie Erde nach einem Gewitter. Sein Kopf sank gegen das Leder.

„So ist’s gut“, säuselte sie. Eiswürfel klirrten. Als sie ihm das Glas an die Lippen setzte, trank er gehorsam.

Der Geschmack brannte. Nicht wie Alkohol. Wie…Kupfer?

Dann begann der Tanz.

Erst war es nur ein Zucken im peripheren Sichtfeld. Schatten, die zu lang waren. Das Gemälde an der Wand, deren Augen ihm folgten. Die Koi-Fische im Teich, die plötzlich schwarze, menschliche Zähne hatten.

„Viktor!“ Charles taumelte zur Bar, wo der Bodyguard über eine bewusstlose Blondine gebeugt war. „Viktor, wir müssen–“

Der Mann drehte sich um.

Nicht Viktor.

Die Kreatur hatte Viktors Anzug, Viktors Gesicht – doch ihre Haut war nach hinten gerissen, wie eine Reißverschlussmaske, und darunter… darunter glänzte etwas Glitschiges, Knochenweißes mit zu vielen Augen.

Charles schrie.

Als er zurück ins Wohnzimmer rannte, war die Party erstarrt. Die Gäste standen wie Wachsfiguren da, ihre Gesichter zu glatten Ovalen geschmolzen. Die Frau in Schwarz thronte auf dem Marmortisch, ihre Beine gekreuzt. Um sie herum krümmte sich die Dunkelheit wie betende Mönche.

„Was…was bist du?!“, keuchte Charles.

Sie lächelte.

Mit einem Schnippen ihrer Finger zerbarst die Deckenleuchte. Glasscherben regneten herab – doch als Charles die Augen aufriss, lag er allein im Dunkeln.

Ein Albtraum. Nur ein Albtraum.

Doch dann roch er es – Rauch.

Er kroch zur Küche. Aus dem Kühlschrank quoll schwarzer, zäher Nebel. Die Milchpackung, die er herauszog, war voller Maden.

„Hilfe!“, heulte er, doch seine Stimme war nur ein Krächzen. Sein Hals brannte.

Im Wohnzimmer flackerte der Fernseher an. Auf dem Bildschirm: Die Fremde, nackt, ihre Haut übersät mit alchemistischen Symbolen. Hinter ihr türmten sich Knochen zu einem Thron.

Klick.

Die Klimaanlage spuckte Blut.

Klick.

Alle Uhren zeigten 3:66 Uhr.

„Genug!“, brüllte Charles und griff nach einer Bronzestatue. Als er sich umdrehte, stand sie da.

Nicht mehr schön. Nicht mehr menschlich.

Ihre Gliedmaßen waren zu lang, ihr Kiefer entzweigerissen wie bei einer Schlange. Aus dem schwarzen Kleid wucherten Dornenranken, die sich in den Boden fraßen. In ihrer Hand funkelte ein Dolch – die Klinge aus Knochen, der Griff mit Augen besetzt, die ihn anstarrten.

„Warum?“, würgte Charles hervor.

Sie neigte den Kopf. „Soll ich die Liste vorlesen? Der Konzern, der Flüsse vergiftet. Die Dörfer, die du für deine Resorts niederbrennen ließest. Und die Mädchen, die in deinem Privatjet verschwanden…“ Ihre Stimme überschlug sich in einem Chor von Flüstern. „Geld macht unsterblich? Lass es uns testen.“

Er rannte.

Doch die Tür führte nicht auf den Flur, sondern in einen Wald aus toten Bäumen, deren Äste wie verkohlte Hände zum Mond griffen. Irgendwo heulte ein Wolf.

„Das kann nicht real sein!“, schluchzte er, während Dornen seine Arme zerkratzten.

„Oh, Charles.“ Die Stimme kam von überall. „In welchem Jahrhundert glaubst du, leben wir? Magie ist nur eine Frage des…Geschäftsmodells.“

Er spürte ihren Atem im Nacken – eiskalt, nach Verwesung. Als er sich umdrehte, sah er es: Ihr offener Mund, groß genug, um seinen Kopf zu verschlingen.

Der letzte Schrei erstickte in einem Schwall schwarzer Flüssigkeit.


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