Leseprobe: Temporales Echo

Kapitel 1: „Fokus“

Jahr: 2024, London

Ray stieg in den Bus – wie jeden Abend – und ließ sich auf einen Platz in der hinteren Reihe fallen. Seine schmale Silhouette verschmolz mit den Schatten des Wagens, als wollte er absichtlich unauffällig wirken. Seine scharf geschnittenen Gesichtszüge blieben reglos, die graublauen Augen starr auf den Punkt fixiert, an dem der Boden unter seinen Schuhen verschwand. Eine feine Narbe oberhalb seiner linken Augenbraue fing kurz das blasse Licht einer Laterne, als er ausstieg und den Gehweg betrat.

Er bewegte sich mit einer Präzision, die fast maschinell wirkte – der schlichte schwarze Mantel umspielte seinen athletischen Körper, während er in gleichmäßigen Schritten durch die Dunkelheit glitt. Der Wind zerrte an seinen dunklen, unordentlichen Haaren, doch er schien es nicht zu bemerken. Ein Hauch von Kälte lag in der Luft, die er rhythmisch ein- und ausatmete – wie ein Metronom, das den Takt seines Weges vorgab. Einatmen – ausatmen – einatmen – ausatmen.

Niemand sah hin. Niemand fragte, warum er immer denselben Weg nahm. Rays Finger zuckten leicht, und ein Schatten huschte über sein Gesicht, während sein Blick sich für einen Moment verdunkelte. Seine Schritte blieben gleichmäßig, doch der Rhythmus schien etwas Zwingendes zu haben – als würde ihn etwas Unsichtbares vorwärts treiben. Dennoch: Jeder seiner Schritte schien abgemessen, als ob er auf einer unsichtbaren Linie tanzte. Perfekt, makellos – wie er selbst.

Er lief die Bayswater Road entlang und würde gleich in den Hyde Park abbiegen. Jedes Mal die gleiche Strecke. Das machte er bereits seit Wochen. Wenn morgen jemand fragen würde, wäre er keine Person, die hier noch nie gesehen worden wäre. Er würde in der Normalität des Parks aufgehen. Ab und zu kamen ihm Jogger oder ein nächtlicher Spaziergänger entgegen. Mal mit, mal ohne Hund. Er grüßte jeden Einzelnen. Manchmal nickte er nur kurz, manchmal hörte er sich selbst „Guten Abend“ sagen.

Die Tarnung war perfekt. Keiner würde Verdacht schöpfen. Wenn das alles vorbei war, würde er weiterhin jede Nacht seine Runden gehen. Und in ein paar Wochen würde es dann vorbei sein. Keiner würde sich an ihn erinnern. Er wäre dann nur noch ein Geist. Vielleicht jemand, der umgezogen ist. Oder verstorben.

Kurz vor einem Reiterdenkmal bog Ray scharf nach rechts in Richtung See ab. Genauer, dem sogenannten Round Pond, obwohl dieser überhaupt nicht rund war. Hier lief niemand. Kein Jogger, kein Hundeliebhaber. Der bewaldete Weg war komplett leer. In sieben Wochen hatte er auf diesem Stück des Parks nur zwei Personen um diese Uhrzeit gesehen. Die Dunkelheit legte sich wie ein schützender Mantel über ihn.

Am letzten Baum vor dem See blieb er stehen und wartete exakt fünf Minuten. Er ließ die Nacht in sich eindringen. Hörte dem Rauschen des Windes zu. Das Rascheln der Blätter. Die monotonen Rufe der Wasservögel, die hin und wieder die Stille durchbrachen. Die Geräuschkulisse eines Parks. Seine Gedanken drifteten kurz ab, doch er zwang sich zurück in den Moment.

Er stellte seine schwarze Tasche vor sich hin und öffnete lautlos den Reißverschluss. Sein Herz schlug schneller, doch er kontrollierte seinen Atem. Tief ein, tief aus. Er griff hinein und konnte das Gewehr fühlen. Es war ein vertrautes Gefühl. Kalt und hart. Mit einem Handgriff zog er es aus der Tasche und wartete wieder kurz. Keine anderen Geräusche waren zu hören. Nur der Park sprach zu ihm.

Ray nahm das Ziel ins Visier. Die Entfernung und Höhe – jedes Detail war ihm so vertraut wie sein eigener Atem. Wochenlang hatte er es geübt, die Bedingungen kalkuliert, jede Abweichung durchgespielt. Jetzt war alles genau so, wie er es geplant hatte. Mit einem Klick aktivierte er das Nachtsichtgerät. Ein grünliches Bild erschien vor seinem Auge. Er sah den leeren Eingang des Kensington Palace. Die graue Fassade wirkte mit diesem grünlichen Stich seltsam surreal, anders als die letzten Wochen beim Simulations-Training. Er blinzelte kurz, um seine Konzentration zu schärfen, und senkte die Waffe wieder. Sein Atem ging ruhig und sicher. Sein Herz schlug in einem gleichmäßigen Takt.

Er schaute auf seine Uhr. Es war 2:37 Uhr. Eigentlich war es egal, wann er schoss. Der Zeitpunkt spielte keine Rolle. Die Technik machte den Unterschied. Er hob die Waffe erneut und richtete sie Richtung Palast. Am Abzug war ein kleiner Schieberegler eingelassen, den er nun leicht betätigte. Die Farbe im Display wechselte von grün zu blau. Die Waffe war nun scharf. Ein bewegliches Fadenkreuz erschien. Ray bewegte die Waffe langsam und kontrolliert. Das Fadenkreuz blinkte auf – er hatte die richtigen Koordinaten erreicht.

Seine Augen verharrten auf dem Ziel, während in seinem Kopf ein Moment der Unsicherheit aufflammte. War es das wert? Ray verharrte, die Finger leicht verkrampft um den Abzug. Seine Augen wanderten kurz vom Ziel weg, hinunter zu seinen Händen. Sie blieben ruhig, doch ein kaum wahrnehmbares Zittern ging durch seine Lippen, bevor er tief durchatmete und den Blick wieder hob. Was, wenn er sich irrte? Wenn das alles ein Fehler war? Doch die Erinnerung an die Gesichter, an die Worte, die ihn zu dieser Mission getrieben hatten, verdrängte die Unsicherheit. Es war kein Zurück mehr möglich. Er atmete tief ein und richtete seinen Fokus erneut auf den Abzug. Die Welt um ihn herum schien stillzustehen, während sein Puls in seinen Ohren hämmerte.

Zwei Sekunden vergingen. Sein Finger lag ruhig auf dem Abzug. Ein tiefer Atemzug. Dann drückte er ab. Der Schuss auf den menschenleeren Palast hallte durch den Park, gefolgt von einem dumpfen Echo. Die Stille kehrte zurück, als wäre nichts geschehen. Kein Licht ging an, keine Stimmen riefen. Der Park verschluckte den Moment.

Ray packte die Waffe ruhig wieder in die Tasche. Kein Zittern, kein Zögern. Alles lief nach Plan. Er zog den Reißverschluss zu, hob die Tasche an und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Seine Schritte hinterließen keine Spuren, sein Atem war wieder gleichmäßig. Niemand würde ihn bemerken.

Er wusste, dass er gerade Geschichte geschrieben hatte.

Kapitel 2: „Rauch“

Jahr: 1997, London

Ethan schlug mit voller Wucht auf die Scheibe, das Glas zerbarst unter seinen Händen. Ein tiefroter Tropfen glitt langsam über seine Finger, doch sein Blick blieb fest auf den Feueralarm gerichtet. Mit einem Ruck drückte er den Knopf, ignorierte das warme Brennen in seiner Hand und die blutigen Spuren, die er hinterließ. Sein kantiges Gesicht war vor Anspannung verzerrt, und seine durchdringend grünen Augen fixierten einzig den gedrückten Feueralarmknopf. Sofort ertönten die Warnsignale im Gebäude. Der Rauch war überall, seine Lungen brannten, und sein kurz geschnittenes, dunkelbraunes Haar war bereits von Schweiß durchtränkt.

„Die Beweise, Hank!“, rief er und drehte sich zu seinem Kollegen um.

Hank, eine imposante Erscheinung mit breiten Schultern und einer leicht korpulenten Statur, wich einen Schritt zurück, als ihm der beißende Qualm entgegenschlug. Seine grauen Augen blickten angestrengt durch die dichten Schwaden, während er sich eine Hand vor das Gesicht hielt, um besser atmen zu können. „Ich habe sie nicht!“, rief er zurück. Seine raue Stimme verlor gegen die schrillen Sirenen und war kaum zu hören.

„Verdammte Scheiße!“, fluchte Ethan und zog die blutende Hand unwillkürlich an seinen Körper, das dünne Stoppelbärtchen an seinem Kinn glitzerte im Schweiß.

„Wir müssen hier raus, Ethan!“ Hank packte seinen jüngeren Kollegen mit einer entschlossenen Bewegung am Arm, seine kräftigen Hände waren ein Leben lang an den Umgang mit brenzligen Situationen gewöhnt. Er zerrte ihn in Richtung Ausgang, während die Hitze ihre Gesichter noch weiter rötete.

„Die Beweise! Die Beweise, die alles ändern würden – alles, was sie bisher geglaubt hatten!“, schrie Ethan und riss sich los. Sein durchdringender Blick war fest auf die Richtung der Asservatenkammer geheftet.

„Dafür ist keine Zeit mehr! Vergiss es, Ethan! Das Gebäude steht in Flammen!“, erwiderte Hank, und sein Gesicht war eine Maske aus Schweiß und Ruß.

„Nicht ohne sie!“, schrie Ethan zurück und stürzte sich in den Rauch. Er griff nach einem Pullover, der achtlos auf einem Stuhl lag, und hielt ihn sich vor Mund und Nase. Das brachte kaum Erleichterung – der Stoff war sofort durchnässt, während seine Lungen weiterhin brannten. Die Asservatenkammer lag nur wenige Schritte entfernt, doch jeder Schritt fühlte sich an wie ein Kampf durch eine unsichtbare Barriere.

Die feuerfeste Tür schimmerte bereits im flackernden Licht. Hinter ihr: Monate harter Arbeit, die sich nun in Rauch auflösten. Ethan packte die Klinke – heiß. Ein letztes Ziehen am Griff, aber sie rührte sich nicht. Um die Tür zu öffnen, musste man einen Code eingeben. Das Bedienfeld befand sich links daneben. Neumodischer Quatsch, schoss es ihm durch den Kopf. Tatsächlich war es erst vor drei Monaten installiert worden. Neben dem Bedienfeld war eine große Panzerglasscheibe, damit man immer sehen konnte, wer sich darin aufhielt. Es brannte lichterloh in dem Raum. Das Bedienfeld war ein verschmolzener Klumpen Plastik. Die Tasten waren kaum noch als solche zu erkennen und etwas Schwarzes tropfte auf die Erde.

Da stand er nun: fünf Meter entfernt von seinen Beweisen, für die er 21 Monate seines Lebens geopfert hatte. Alles war umsonst. Alles löste sich buchstäblich vor seinen Augen auf.

Der beißende Rauch wich der Stille seines Schlafzimmers. Ethan schreckte in seinem Bett hoch. Er war schweißgebadet, sein Hemd klebte unangenehm an seiner Haut, und er atmete heftig. „Die Beweise!“, schrie er in die Dunkelheit. Das Zimmer war stockdunkel, bis auf den schwachen Schein der Straßenlaterne, der durch die halb geschlossenen Vorhänge drang und schemenhafte Muster auf die Wände warf. Es war nicht das erste Mal, dass er davon träumte.

Ethan rieb sich die Schläfen und griff nach dem Wasserglas auf dem Nachttisch. Die Bilder brannten sich in seinen Geist, ungebeten, unerwünscht. Während die kühle Flüssigkeit seine Kehle hinunterlief, spürte er, wie sich die vertrauten Schatten des Vergangenen in jede Faser seines Körpers schlichen. Die Beweise waren zu einem Symbol für seinen eigenen inneren Kampf geworden – gegen die Unordnung, die er nie kontrollieren konnte. Seine Augen suchten die Umrisse des Raumes ab, während er schwer atmend zur Besinnung kam. Die Regale an der gegenüberliegenden Wand waren wie immer akkurat aufgeräumt, vollgestopft mit Fachbüchern über Ballistik, Physik und Kriminalistik, jedes nach Größe und Thema sortiert. Ein abgenutzter, aber bequemer Sessel stand in der Ecke, darüber hing eine alte Lederjacke, die Ethan oft trug.

Er griff nach der kleinen Lampe auf seinem Nachttisch und schaltete sie ein. Das warme Licht erhellte den Raum und ließ die staubige Oberfläche eines alten, vernarbten Schreibtisches aufblitzen, der voller ordentlicher Papierstapel und Notizen war. Daneben lag ein halb geöffnetes Holzetui, das sein sorgfältig gepflegtes Reinigungsset für Waffen enthielt. Er nahm erneut einen Schluck Wasser aus dem Glas, das immer an derselben Stelle stand, direkt neben der silbernen Uhr seines Vaters – einem Erbstück, das ihn auf seltsame Weise beruhigte.

Ethan setzte sich auf die Bettkante und sah zur Uhr. Es war 4:23 Uhr. Der dünne Teppich unter seinen nackten Füßen war rau und ein wenig abgewetzt, ein Relikt aus der Zeit, als er das Apartment in der Garway Road übernommen hatte. Die Wände, in einem schlichten Beige gestrichen, waren kahl bis auf ein einziges Bild: ein Schwarz-Weiß-Foto von Ethan und Sam, aufgenommen an einem seltenen gemeinsamen Nachmittag. Das leise Ticken der Wanduhr in der Küche war kaum zu hören, aber in der Stille der Nacht schien es laut widerzuhallen.

Er war noch immer schlaftrunken und dennoch voller Adrenalin. Er hasste diesen Zustand und nannte ihn Wachwandeln, quasi das Gegenteil von Schlafwandeln. Ob es den Begriff wirklich gab, wusste er nicht – er hatte ihn einfach für sich selbst erfunden.

Ethan stand auf und tappte barfuß ins Badezimmer. Die kalten Fliesen unter seinen Füßen waren ein unangenehmer Kontrast zu der Wärme seines Bettes. Der Raum war klein, funktional und schlicht gehalten – weiße Kacheln an den Wänden, die von den Jahren leicht vergilbt waren, und ein schmaler, verchromter Heizkörper, der als Handtuchhalter diente. Über dem Waschbecken hing ein alter Spiegel mit einem kleinen Sprung am Rand, ein Überbleibsel von einem hektischen Morgen vor Jahren, an dem er mit dem Ellbogen dagegen gestoßen war. Die Ablage darunter war penibel aufgeräumt, mit einer Reihe von Pflegeartikeln: Rasierschaum, eine Tube Zahnpasta und eine Flasche Aftershave, die nach Sandelholz roch.

Ethan blieb vor dem Spiegel stehen und betrachtete sein Spiegelbild. Da stand er nun: Detective Sergeant Ethan Alaric Hawthorne, Spezialist für forensische Ballistik und Waffentechnologie bei der Metropolitan Police in London. Die tiefgrünen Augen starrten ihn an, durchdringend, aber mit einem Hauch von Müdigkeit, als würden sie versuchen, etwas in ihm zu erkennen, das längst verloren war. Sein kantiges Gesicht war von leichten Falten durchzogen, besonders um die Augen, wo die Spuren unzähliger Nächte ohne Schlaf sichtbar wurden. Mit seinen 35 Jahren hatte er schon mehr gesehen, als viele in einem ganzen Leben ertragen mussten. Der Drei-Tage-Bart umrahmte sein markantes Kinn und fügte ihm einen Hauch von Reife hinzu, während die ersten grauen Strähnen in seinem dunkelbraunen Haar von der Schläfe bis zu den Spitzen sichtbar waren.

Instinktiv strich seine rechte Hand über die alte Narbe auf seiner linken Handfläche – eine bleibende Erinnerung an den Brand vor fünf Jahren. Sein schlanker, muskulöser Körper spiegelte eine Kombination aus Disziplin und Belastung wider, mit Schultern, die die Last eines Lebens voller Entscheidungen trugen, die schwerer wogen, als er es sich jemals eingestanden hatte.

Sein Blick wanderte ab, als ihm die schief stehende Zahnbürste auf der Ablage auffiel. Er hielt kurz inne, stellte sie gerade, obwohl er sie gleich benutzen würde. Ein kleiner Akt der Kontrolle in einem Leben, das sich oft chaotisch anfühlte.

Er zögerte, bevor er das Licht am Spiegel ausschaltete. Die Linien seines Gesichts verschwanden in der Dunkelheit, doch die Müdigkeit, die er in seinen Augen gesehen hatte, blieb tief in ihm verwurzelt. Die Frage, ob er sich noch einmal hinlegen sollte, schien bedeutungslos – in knapp 90 Minuten würde der Wecker ohnehin klingeln.

Nach der Toilette ging er zurück ins Schlafzimmer. Ethan öffnete den Schrank. Dunkelblaue Anzüge, hellblaue und weiße Hemden – alles in perfekter Reihenfolge. Seine schlichten Krawatten hingen sauber aufgereiht. Er griff nach einem Einreiher und einem Hemd, wie immer.

Darunter standen seine klassischen schwarzen Oxford-Schuhe. Sie hatten an den Spitzen feine Kratzer – kaum sichtbar, aber für einen Mann wie Ethan ein stiller Hinweis darauf, dass er längst keine Zeit mehr für Nebensächlichkeiten hatte.

Ethan zog eines der hellblauen Hemden an, kombinierte es mit einem dunkelblauen Einreiher und entschied sich für eine dunkelrote Krawatte – die einzige, die etwas auffiel, aber dennoch dezent genug war. Seine Schuhe polierte er mit einem schnellen Handgriff, bevor er sie anzog. Dann nahm er seinen Mantel von der Garderobe, schnappte sich seine Aktentasche und ging die Treppen hinunter in Richtung Straßenrand.

Vor ihm stand sein Wagen: ein metallic-blauer Ford Mondeo, Baujahr 1996. Ethan hatte ihn vor einem Jahr als Neuwagen gekauft und war stolz darauf, obwohl Statussymbole ihm wenig bedeuteten. Der Mondeo war funktional, sparsam und bot genug Platz, um auch mal Beweismaterial zu transportieren. Er öffnete die Tür, setzte sich hinein und startete den Motor. Der Mondeo erwachte mit einem sanften Brummen zum Leben. Ethan legte den Sicherheitsgurt an und warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel, bevor er losfuhr. Die Straßen Londons waren um diese Uhrzeit ruhig. Ein dichter Schleier aus Nebel legte sich über die Stadt, als wollte er die Straßen Londons in Geheimnisse hüllen. Der Nebel war so dicht, dass die Straßenlaternen wie verschwommene Lichtkugeln in der Dunkelheit schwebten.

Nach rund fünfundzwanzig Minuten erreichte er das Polizeipräsidium an der Victoria Embankment. Das Gebäude erhob sich wie ein stummer Wächter vor dem blassen Himmel der Morgendämmerung. Die Fassade aus grauem Sandstein, von der Zeit und dem Wetter gezeichnet, verlieh ihm eine ehrwürdige Ausstrahlung, die sowohl kühle Autorität als auch Unnahbarkeit ausstrahlte. Hohe, schmale Fenster zogen sich in regelmäßigen Abständen über die drei Stockwerke, während die massiven, doppelflügeligen Holztüren im Eingangsbereich eine Mischung aus traditioneller Würde und zeitloser Funktionalität vermittelten.

Der Eingang war flankiert von zwei steinernen Löwenstatuen, deren ausdrucksvolle Gesichter eine beinahe lebendige Präsenz hatten. Zwischen ihnen führten drei Stufen hinauf zu den schweren Türen, die von polierten Messinggriffen und eingelassenen Ornamenten geziert wurden. Die gläsernen Sicherheitsschleusen dahinter funkelten im kalten Licht der Außenbeleuchtung und waren ein Kontrast zur historischen Ästhetik des Gebäudes.

Ethan parkte den Mondeo in der Tiefgarage, schaltete den Motor ab und griff nach seiner Aktentasche. Er stieg aus und schloss das Auto ab, bevor er die Treppen zum Hauptgebäude hinaufging. Der Geruch von Beton und Öl hing schwer in der Luft, begleitet vom entfernten Echo von Schritten anderer Beamter.

Er durchquerte die Sicherheitsschleuse mit dem Gefühl, bereits tausendmal dieselben Schritte getan zu haben. Der Wachoffizier, ein breitschultriger Mann mit wettergegerbtem Gesicht, stand wie gewohnt an seinem Platz. Sein dunkelblauer Uniformmantel war ordentlich geschlossen, die silbernen Knöpfe leicht abgenutzt, doch immer noch glänzend. Sein kantiges Gesicht trug die Spuren eines Lebens voller Nachtschichten und langer Stunden – feine Linien um die Augen und ein Hauch von Müdigkeit, der selbst durch den Schnurrbart hindurchschien.

„Morgen“, murmelte der Wachmann mit tiefer, rauer Stimme, in der ein leichter Cockney-Akzent mitschwang. Seine dunkelbraunen Augen musterten Ethan kurz, während er routiniert den Bereich scannte. Die rechte Hand trommelte unbewusst auf den Tresen vor ihm, ein Tick, der von langen Stunden des Wartens sprach.

Ethan nickte zurück, ein leises „Morgen“ auf den Lippen, während sein Blick auf den Boden gerichtet blieb. Doch er nahm unbewusst die unerschütterliche Ruhe wahr, die der Wachmann ausstrahlte – eine beruhigende, aber auch unnachgiebige Präsenz, die Ethan an die solide, fast stoische Natur dieses Mannes erinnerte.

Der sterile Geruch des Gebäudes brachte ihn nicht zur Ruhe – hinter seinen Augen flackerten noch die Bilder des Traums, brennende Räume und der Schrei nach Beweisen, die er nie finden würde. Seine Finger krampften um die Aktentasche, als wäre sie alles, was ihn hier hielt.

 


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