Leseprobe: Weil … Du!
Teil 1: „Und dann war da jemand“
08.03.2020
Die Sonnenstrahlen durchbrachen die grauen Wolken und tauchten Emilies Zimmer in sanftes, goldenes Licht. Ein Sonntag. Kein Schulstress, keine Hausaufgaben. Nur ein freier Tag, der sich träge vor ihr ausbreitete.
Nur noch eine Woche bis zu ihrem Geburtstag. Sie würde Siebzehn werden – das klang fast erwachsen.
Sie drehte sich auf den Rücken, blinzelte gegen das Licht und griff nach ihrem Handy auf dem Nachttisch. 10:23 Uhr – spät genug, um sich aus dem Bett zu quälen. Langsam schob sie die Decke zur Seite, streckte sich und schwang die Beine aus dem Bett. Der Teppich war weich unter ihren Füßen, doch ein kühler Luftzug zog durchs Zimmer. Draußen war es sicher noch frisch.
Mit müden Schritten verließ sie ihr Zimmer und ging ins obere Bad. Das große, moderne Badezimmer wirkte beinahe luxuriös – breite, graue Fliesen, eine freistehende Badewanne, eine geräumige Glasdusche. Über den Doppelwaschbecken hing ein großer Spiegel, in dem sich das Morgenlicht fing. Die weißen Handtücher auf der schmalen Ablage waren ordentlich gefaltet, daneben standen ihre Pflegeprodukte in einer dezenten Reihe. Emilie trat näher und betrachtete ihr Spiegelbild.
Die grünen Augen stachen in der Reflexion heraus, ihr braunes Haar fiel in losen Strähnen über die Schultern. Aber es waren die Narben, die zuerst ins Auge fielen. Blass, silbern, verwoben mit der zarten Haut ihrer linken Wange. Sie zogen sich bis zum Mundwinkel, über den Hals hinunter zur Schulter. Sie kannte jede Unebenheit, jede Linie. Und doch nahm sie sie kaum noch wahr. Sie waren einfach da – ein Teil von ihr.
Ohne nachzudenken, griff sie nach der kleinen Tube mit Narbengel, drückte eine kühle Portion auf ihre Fingerspitzen und massierte es sanft in die Haut ein. Eine vertraute Routine, mechanisch ausgeführt. Dann putzte sie sich die Zähne, spülte den Mund aus und verließ das Bad wieder.
In ihrem Zimmer schob sie die Vorhänge ganz zur Seite und ließ das Tageslicht herein. Ihr Zimmer hatte sich verändert – es war kein typisches Teenagerzimmer mehr mit überladenen Wänden voller Poster.
Einige ihrer Lieblingsbilder hingen noch, ein altes Green-Day-Poster an der Tür, daneben ein eingerahmtes Bild vom Strand, das Olivia ihr geschenkt hatte. Ihr Schreibtisch war aufgeräumt, bis auf ein paar verstreute Bücher und ihren Laptop. Über dem Bett lagen einige Kissen, darunter ein abgenutzter Stoffhase – Daggi, ihr geheimes Überbleibsel aus Kindertagen.
Sie zog sich an – eine dunkle Jeans, ein bequemer Pullover in gedeckten Farben. Unauffällig – genau, wie sie es mochte.
Als sie die Treppe hinunterging, umfing sie der Duft von Kaffee und Toast. Die Küche war modern, funktional, mit klaren Linien und ohne unnötigen Kitsch. Weiß, mit einer dunklen Holzarbeitsplatte, Edelstahlgeräte, alles sauber und aufgeräumt.
Am Tisch saßen ihre Eltern. Ihr Vater, Jonathan, hielt eine Tasse Kaffee in der Hand und musterte sie mit einem schmunzelnden Blick. „Morgen – endlich aus dem Bett gefallen?“ Seine Stimme klang warm, neckend, aber ohne Spott. Er sah sie mit den gleichen grünen Augen an, die sie im Spiegel betrachtet hatte.
Ihre Mutter, Sarah, war bereits tief in Unterlagen vertieft, ein Stapel Akten vor sich. Ohne aufzusehen murmelte sie: „Morgen, Schatz.“ Ihre Stimme war freundlich, aber abwesend. Ihre dunklen Haare waren locker hochgesteckt, und ein paar Strähnen hatten sich gelöst, fielen ihr ins Gesicht.
„Morgen“, erwiderte Emilie und setzte sich. Ihr Platz war bereits gedeckt – Toast, Marmelade, ein Glas Orangensaft. Sie begann zu essen, ihr Magen knurrte.
„Na? Welche Pläne stehen heute an?“ fragte ihr Vater, während er den letzten Schluck aus seiner Tasse nahm.
„Strand“, sagte Emilie zwischen zwei Bissen. „Später noch zu Kate.“
Neben dem Tisch, mitten in einem sonnigen Fleck auf dem Boden, lag Bello – der kleine Chihuahua, zusammengerollt wie eine schlafende Katze. Direkt neben ihm stand sein Körbchen, doch das lag im Schatten und wurde wie immer ignoriert.
Emilie schüttelte grinsend den Kopf. „Typisch Bello.“
Beim Klang seines Namens hob der kleine Hund träge den Kopf und wedelte langsam mit dem Schwanz über den Boden, ohne sich zu bewegen.
Sie grinste. Es fühlte sich nach einem guten Morgen an.
Die Tür fiel leise ins Schloss, als Emilie das Haus verließ. Der Himmel über Shoreham-by-Sea war ein weites, blasses Blau, durchzogen von zarten Wolkenschleiern. Die Luft war kühl, mit einer leichten Salzbrise, die vom Meer herüberwehte. Sie zog den Reißverschluss ihres Pullovers höher und schob die Hände in die Taschen.
Woodards View war eine ruhige, schmale Straße, gesäumt von gepflegten Vorgärten und den typischen Backsteinhäusern, die in ihrer gleichmäßigen Anordnung fast zu perfekt wirkten.
Ein älterer Herr mit einem Cocker Spaniel grüßte sie mit einem knappen Nicken, doch Emilie erwiderte es nur flüchtig. Sie hatte nie viel mit den Nachbarn gesprochen. Sie war die stille Harper-Tochter mit den Narben im Gesicht – ob die Leute das wirklich dachten oder ob es nur ihr eigener Schatten war, wusste sie nicht.
Der Weg zum Strand führte sie vorbei an der kleinen Parkanlage, in der spielende Kinder sich um die Schaukeln stritten. Ihre Stimmen waren hell, ausgelassen – so unbeschwert, wie Emilie es nie gewesen war. Sie wandte den Blick ab, ließ ihre Schritte schneller werden.
Bald erreichte sie die High Street – Shorehams Hauptstraße war nie überfüllt, aber stets belebt. Kleine Läden reihten sich aneinander – ein Buchladen mit schiefen Regalen, ein Blumenladen, dessen Duft nach Lavendel und Rosen süß in der Luft hing, ein altes Kino, das vor allem Klassiker spielte. Emilie mochte diese Straße, aber sie fühlte sich hier fehl am Platz, wie eine Statistin in einer Welt, die nicht für sie gemacht war.
Dann das vertraute Geräusch der Möwen. Ihr Blick hob sich, und sie sah die breite Fußgängerbrücke über den River Adur, der träge Richtung Meer floss. Langsam überquerte sie die Brücke, die Hände am kühlen Metallgeländer. Auf der anderen Seite lag das offene Meer, und das leise Rauschen der Wellen erreichte bereits ihre Ohren.
Der Strand war weitläufig und menschenleer – zumindest an diesem Vormittag. Emilie trat über den Kies. Ihre Stiefel sanken leicht in die kleinen, glatten Steine. Sie blieb stehen, während der Wind an ihr zerrte, ihre Haare in alle Richtungen wehte. Der Horizont war ein verschwommener Strich, wo das Meer in den Himmel überging.
Sie war allein. Und es fühlte sich nicht einmal schlecht an.
Ihr Geburtstag war in einer Woche. Sie atmete tief ein. Was sollte es schon? Es würde wie immer sein – ihre Eltern, Liv, Kate. Und Bello. Natürlich Bello.
Sie würden da sein, weil sie sie mochten. Aber wäre jemand da, weil er sie wirklich brauchte?
Freunde? Welche Freunde?
Sie kannte die Antwort. Schon immer. Von der ersten Klasse an hatte sie gelernt, was sie war: ein Monster. Ein Zombie. Ein Mädchen mit einem geschmolzenen Gesicht.
Das Schlimmste an der Schule? Nicht die Worte. Nicht die schiefen Blicke. Sondern die Angst, sich zu wehren. Was hätte sie tun sollen? Kämpfen? Zurückschreien? Sie hatte nie gewusst, wie. Also war sie still geblieben. Unsichtbar. Unauffällig. Abstand war einfacher.
Sie seufzte, griff in ihre Tasche nach den Ohrstöpseln. Ein Knopfdruck, und Taylor Swifts Stimme erfüllte ihre Ohren.
Emilie ließ die Worte auf sich wirken. Dann drehte sie sich um, ging den Weg zurück. Schritt für Schritt.
Ihr Fahrrad lehnte am Zaun ihres Hauses. Sie schwang sich darauf, trat in die Pedale. Der Wind rauschte an ihr vorbei, während sie durch die Straßen von Shoreham fuhr. Der Weg war ihr vertraut – vorbei an der alten Kirche, die Schatten über den Bürgersteig warf, vorbei an den bunten Häusern in Southlands Avenue.
Das Sea Breeze Café tauchte vor ihr auf, mit seinen blauen Fensterrahmen und den kleinen, runden Tischen draußen. Ein Ort, an dem sie nicht unsichtbar war.
Ein Ort, an dem Kate auf sie wartete.
♥
Das Sea Breeze Café war ein Ort mit Seele. Klein, aber voller Leben. Die Fensterrahmen, ein verblasstes Himmelblau, passten perfekt zu den runden Holztischen, die sich aneinanderschmiegten wie alte Freunde. Das Licht, das durch die große Frontscheibe fiel, wurde von der warmen Holzvertäfelung an den Wänden aufgenommen, während der Duft von frisch gemahlenem Kaffee und warmen Croissants die Luft erfüllte. Im Hintergrund lief das Radio – eine sanfte, unaufdringliche Melodie, die sich mit dem leisen Klappern von Tassen und den Stimmen der Gäste vermischte.
Es war gut besucht – fast alle Tische besetzt. Einheimische saßen in kleinen Grüppchen zusammen, vertieft in Gespräche, während die wenigen Touristen, die sich bereits hierher verirrt hatten, vorsichtig durch die Speisekarte blätterten. Noch war es ruhig. In zwei Monaten würde sich das ändern – dann würde das Café aus allen Nähten platzen, sobald die Sommergäste Shoreham überfluteten.
Emilie trat hinter den Tresen, wo Kate gerade mit einer Hand Kaffeebohnen nachfüllte und mit der anderen die Kasse bediente. Ihre Haare waren wie immer in einem lässigen Dutt gebunden, einige Strähnen hatten sich gelöst und wippten bei jeder Bewegung mit.
„Hey, Mädchen.“ Ein Lächeln huschte über Kates Lippen, bevor sie Emilie mit einem kurzen, festen Druck an sich zog. „Bereit für den Wahnsinn?“
„Bereit geboren“, erwiderte Emilie trocken und erwiderte die Umarmung, ehe sie in den kleinen Raum verschwand, der nur für das Personal bestimmt war.
Dort hingen einige Spinde an der Wand, ein abgenutztes Sofa stand in der Ecke, und auf einem niedrigen Tisch stapelten sich unordentlich gefaltete Schürzen. Emilie zog sich um – das berühmte Sea Breeze Café-Outfit. Eine schlichte schwarze Jeans, dazu ein lockeres, beigefarbenes T-Shirt mit dem runden Logo des Cafés auf der Brust: eine gezeichnete Kaffeetasse, aus der sich eine stilisierte Meereswelle erhob. Darüber eine anthrazitfarbene Schürze, die an den Ecken bereits abgewetzt war.
Als sie wieder hervortrat, ließ sie den Blick durch das Café schweifen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Ihre Finger glitten unbewusst über die Schürzenbänder, während sie die Gäste musterte.
Kate deutete mit einer Kopfbewegung zu einem Tisch in der hinteren Ecke. „Die da hinten brauchen noch Tee und Kaffee.“
Emilie nickte und trat an die große Espressomaschine – ein Ungetüm aus Edelstahl, Rohren und Düsen, das auf den ersten Blick mehr an eine industrielle Dampfmaschine erinnerte als an ein Küchengerät. Sie füllte einen Siebträger mit frisch gemahlenem Kaffee, drückte ihn routiniert fest und setzte ihn in die Maschine. Während das dunkle Gold langsam in die Tasse floss, griff sie nach einer anderen und füllte sie mit heißem Wasser. Ein Teebeutel kam hinzu – fertig.
Sie balancierte das Tablett durch den Raum und blieb schließlich an einem Tisch mit vier jungen Männern stehen. Touristen. Zwei von ihnen hatten ihre Getränke bereits, die anderen beiden nickten ihr kurz zu, als sie die dampfenden Tassen vor ihnen abstellte. Emilie zwang sich zu einem Lächeln, wünschte einen schönen Tag und drehte sich um.
Kaum hatte sie ein paar Schritte getan, begann das Getuschel.
„Hast du gesehen …?“
„Verdammt, das ist ja–“
Dann Gelächter.
Ihre Schultern verkrampften. Die Wärme des Cafés – eben noch wohltuend – verpuffte. Ein vertrautes Stechen in der Brust. Nicht neu. Nicht überraschend. Und doch immer wieder schmerzhaft.
Sie zwang sich, den Kopf gerade zu halten, ging langsam zurück zum Tresen, wo Kate bereits auf sie wartete.
„Na, na, na … was machst du denn für ein Gesicht?“ Kates Augen musterten sie aufmerksam, ihr Ton war gespielt beiläufig.
„Alles gut.“ Emilie zwang sich zu einem Grinsen, aber es fühlte sich falsch an.
Das Lachen am Tisch wurde lauter.
Kate folgte ihrem Blick und hob langsam eine Braue. Mit einer knappen Geste deutete sie auf den Tisch. „Die da?“
Emilie nickte stumm.
Kate legte ohne zu zögern das Handtuch beiseite, schob sich die Ärmel hoch und marschierte auf den Tisch zu.
„Oh, schmecken die Getränke nicht?“ Ihre Stimme klang ruhig, fast freundlich. „Seltsam. Anderen schmeckt’s.“ Sie ließ ihre Worte eine Sekunde lang in der Luft hängen, dann setzte sie nach: „Vielleicht liegt’s an eurem Gesichtsausdruck.“
Die vier verstummten. Einer von ihnen schluckte sichtbar.
Ohne ein weiteres Wort zog Kate ihren Notizblock hervor, riss einen Zettel ab und ließ ihn auf den Tisch gleiten. „Hier – die Rechnung. Und tschüss.“
Kein Widerspruch. Kein Protest. Nur betretenes Schweigen.
Emilie hätte es ihr danken sollen. Aber stattdessen wandte sie den Blick ab, biss sich auf die Lippe und spürte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete.
Sie wollte keine Szenen. Sie wollte einfach nur unsichtbar sein.
Kate zwinkerte ihr zu – und Emilie erwiderte die Geste beinahe automatisch. Eine wortlose Verständigung, ein Moment der Normalität, der in der dichten, warmen Atmosphäre des Cafés kaum auffiel.
Doch dann kippte die Stimmung. Die sanfte Hintergrundmusik verstummte, ersetzt durch die kühle Stimme einer Radioreporterin.
„Hier ist BBC News. Die britische Regierung berät weiterhin über drastische Maßnahmen zur Eindämmung des neuartigen Coronavirus. Premierminister Boris Johnson erklärte heute in einer Pressekonferenz, dass alle Bürger angehalten sind, nicht notwendige Reisen und soziale Kontakte auf ein Minimum zu reduzieren. Wissenschaftliche Berater warnen, dass sich die Lage in den kommenden Tagen weiter zuspitzen könnte. Schulen bleiben vorerst geöffnet, doch es wird erwartet, dass sich dies in Kürze ändern könnte. Während in Italien bereits strikte Ausgangssperren gelten, steigen auch in Großbritannien die Infektionszahlen rasant. Experten sprechen von einer kritischen Phase, in der das Gesundheitssystem vor enormen Herausforderungen steht. Weitere Informationen folgen in den nächsten Stunden.“
Für einen Moment schien die Welt stillzustehen. Das Klappern von Geschirr, das Murmeln der Gäste – all das trat in den Hintergrund. Kate hatte die Hand auf der Espressomaschine ruhen lassen, ihre Augen verengt.
Dann schnaubte sie leise, legte eine Hand auf Emilies Schulter und sagte nur zwei Wörter: „Verdammte Seuche.“
Emilie nickte stumm. Es gab nichts weiter zu sagen.
© SaarPoesie, Alle Rechte vorbehalten. Dieses Material darf ohne die vorherige und ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Urheberrechtsinhabers nicht vervielfältigt, ausgestellt, verändert oder verbreitet werden. Es ist erlaubt, diesen Link bzw. diese Seite auf anderen Webseiten und/oder Social Media zu Demonstrationszwecken zeigen!